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Ludwig Hohl

Bergfahrt

«Und dann gab es noch andere Momente, die nicht mehr Träume waren, sondern eine Mischung von Wachen und Träumen, genau das, was man eine Halluzination nennt. In einem solchen Moment hatte er auf einmal die endgültige Antwort gefunden auf die oft gestellte Frage: ‹Warum steigt ihr auf Berge?›»

Die Geschichte ist rasch nacherzählt: Zwei Kameraden, wie sie ungleicher nicht sein könnten, der Draufgänger Ull und der zaghafte Johann, begeben sich frühmorgens auf eine Bergtour. Trotz ungünstiger Wetterverhältnisse wagen sie den Anstieg und dringen bei heftigsten Schneestürmen immer weiter ins Gebirge. Doch mitten auf dem Weg verliert Johann den Mut und er kehrt um, während sich Ull von falschem Ehrgeiz gepackt weiter vorwagt. Es kommt, wie es kommen muss: Ull durchlebt stundenlange Qualen in Eis und Kälte, bis er schliesslich delirierend und entkräftet in einem Bergschrund zu Tode stürzt. Aber auch Johann ergeht es nicht besser, als er zurück im Tal vor Erleichterung und Leichtsinn in einem glitschigen Bachbett auf jämmerliche Weise umkommt.

Mit der Erzählung «Bergfahrt» ist Ludwig Hohl eine Meisternovelle von zeitloser Brillanz gelungen. Selten hat der – eher für sein anspruchsvolles Notizenwerk bekannte – Autor wie hier zu einer solcherart leichten und dennoch äusserst luziden Prosa gefunden, die in ihren Sprachbildern aber merkwürdig irisiert und imaginäre Abgründe eröffnet. Das Unheil ist immer schon drohend zwischen den Zeilen vernehmbar. Hinter dem geschilderten Realismus lauert eine Welt des Unwirklichen, Phantasmagorischen und Unbewussten, die punktuell in Träumen oder Visionen hervorbricht, ansonsten aber in schwebender Latenz verbleibt. Hohl geht spärlich um mit Symbolik und Metaphorik. Wo sie aber zum Einsatz kommen, wirken die Stilmittel umso gewaltiger.
Wie gleich zu Beginn, als das Gebirge zum «sehr großen Schiff» erklärt wird, «das nicht in ein Erdenmeer nur, das in die Ewigkeit hinein führe». Diese Evokation der ‹navigatio vitae› setzt ein markantes Signal, dass die Erzählung nur vordergründig als Bergsteigerdrama zu lesen sei. Vielmehr wendet Hohl die Geschichte durch den schematischen Handlungsaufbau ins Parabelhafte. Was dem Leser vor Augen geführt wird, ist ein Gleichnis von existentieller Dringlichkeit. Das Motiv der Bergfahrt korrespondiert gleichsam mit einem ‹nosce te ipsum›: Der Gang ins Gebirge führt die Bergsteiger sukzessive auch tiefer zu sich selbst, bis sie in der felsigen Isolation schliesslich mit den eigenen Abgründen konfrontiert werden.

(Magnus Wieland)

Suhrkamp, Frankfurt / M. 1975

ISBN: 978-3-518-22484-7

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