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Mariella Mehr

Daskind

«Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg.»

Daskind hat weder Namen noch Rechte. So lebt es bei seinen Zieheltern. Regelmässig wird es vom Pflegevater gezüchtigt, vom Untermieter sexuell genötigt und mit der jungfernsäuerlichen Moral der Pflegemutter zurecht gewiesen. Wer sich an ihm vergreift, tut es gefahrlos – doch auch die Täter werden dabei nicht glücklich. Mariella Mehrs Roman – der erste Teil einer Trilogie – schildert das unglückliche Leben eines Adoptivkindes in einer Gemeinschaft von Menschen, die selbst zu Aussenseitern gestempelt sind. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch sind aufgehoben. Daskind ist ein bedauerliches Opfer, das gequält und verachtet wird und stumm alle Übergriffe erträgt – doch es versteht sich auch zu wehren, denn: «Wenn wir gross sind, sagt Daskind zu sich, werden wir einen von ihnen töten.»

Eindrücklich und beklemmend schildert der Roman eine Atmosphäre von blöder Dumpfheit, Heuchelei und Aggressivität, die letztlich alle zu Opfern und Tätern zugleich stempelt, ausweglos. Für dieses Elend hat die Autorin eine impulsive, expressive Sprache gefunden. Harsch, spröde, provozierend direkt und oft in grammatisches Stammeln verfallend verleiht sie vor allem der verstörten Stummheit des Kindes eine Stimme. Sie spitzt radikal zu, um die Wirklichkeit einzufangen. Mariella Mehr selbst entstammt einer Familie von Fahrenden, die in den 1950er Jahren im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» auseinandergerissen wurde.

(Beat Mazenauer)

Nagel & Kimche, Zürich / Frauenfeld 1995

ISBN: 3-312-00210-9

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