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Gerhard Meister

Eine Faser schweizerischer Wirklichkeit

Alltag Ein Fundstück für künftige Archäologen

Basel, Montag, 28. April, ein trüber Tag voll Regen, ich sitze kurz vor zwei Uhr im fast leeren Speisewagen des Eurocity Richtung Zürich, Abfahrt (planmässig) 14 Uhr 07.

Ganz vorne im Wagen sehe ich die Serviererin an einem kleinen Tischchen sitzen und (Ostschweizerdialekt, ziemlich laut) eine endlose Reihe von Zahlen in ihr Handy diktieren.

Eine beliebige kleine Szene, eine Faser schweizerischer Wirklichkeit und diese jetzt aus dem vergänglichen Körper des Tages herauslösen, sie, so wie sie ist, einspannen in diese Zeilen, einlegen ins Formalin dieser Sätze…

Die Serviererin hat die Zahlenreihe abgearbeitet, sie legt das Handy zur Seite.

Serviererin: Fa schifo, fa schifo.

Der Mann mit der Minibar erscheint. Er ist ein grossgewachsener Mann, der, so bin ich sofort bereit zu glauben, die Sonne Afrikas vermisst. Er steht im Gang vor seiner Minibar.

Mann mit Minibar: Wo find ich Café hier? Catastrophe. Muss zwei Rapport machen jetzt.

Serviererin: Du bist neu?

Mann mit Minibar: Ja.

Lautsprecherdurchsage, der Zug hat Verspätung, weil die Lokomotive noch fehlt.

Eine kleine Szene, wie sie zeitgleich überall im Land stattfindet. Die Akteure: Menschen, die sich in ihren schlechtbezahlten Jobs abrackern und versuchen, sich davon nicht unterkriegen zu lassen.

Serviererin: bemüht, für ihn ganz einfache deutsche Sätze zu machen. Niemand hat dir gezeigt hier, heute erster Tag, hier?

Mann mit Minibar: Ja.

Serviererin: Entschuldigung, habe auch 1000 Sachen im Kopf. Hättest was sagen können, dann hätte ich anders reagiert. Hättest was sagen können.

…ein Präparat herstellen dieser Szene, indem ich sie aufschreibe, damit die kleine Szene haltbar machen. Etwas bleibt von ihr zurück und ist vielleicht noch da, wenn alle Beteiligten längst verschwunden sind (die potenzielle Unsterblichkeit des Internets, jeder Text ein mögliches Fundstück für zukünftige Archäologen: Man kann sich einen vorstellen von ihnen, wie er auf diesen Schnipsel stösst und was anfängt damit?)

Serviererin: zu einem Gast. Sie müssen warten mit Bestellen. Ohne Lok habe ich keinen Strom.

Mann mit Minibar: zählt seine Vorräte. Kägifrett. Keine. Null. Toblerone. Keine. Null.

Ein Ruck geht durch den Zug, die Lok ist angehängt.

Aber die Vorstellung vom Internet als einem Ort, wo Botschaften aus unserer Zeit für künftige Zeiten und Entdecker aufbewahrt bleiben, beruht vielleicht nur auf technischem Unverständnis und ist nichts als etwas Romantik, die mir über den Regentag hinweghelfen soll.

Der Zug fährt an, die nassen, grauen Häuserfronten,  die grauen Wolken darüber kommen in Bewegung. Der Mann mit der Minibar (Hemd, Gilet und Krawatte sitzen perfekt) verkauft noch im Speisewagen sein erstes Sandwich (sehr freundlich), die Serviererin bedient einen Gast (ebenfalls sehr freundlich), atmet dann hörbar aus, lässt sich auf einen Sessel fallen, wendet den Blick Richtung Fenster, vor dem der graue Tag vorbeizieht, bleibt reglos in dieser Haltung.

Vielleicht, wer weiss, hätte ich diesen Text, um ihn haltbar zu machen, besser nicht in meinen Computer getippt und dann ins Netz gestellt, sondern von Hand auf ein Blatt Papier geschrieben, dieses dann in eine Flasche gesteckt und sauber verkorkt in die Limmat geworfen.

Ein Blog-Beitrag von «Bern ist überall» im Journal B. Zuletzt: Von Kollege Micieli und einer bröckelnden Konvention von Beat Sterchi.

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