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Kurz notiert, schnell gelesen Die bibliophile Notiz für Kalenderwoche 49
«[Ulises Lima] war ein komischer Typ. Er schrieb die Ränder der Bücher voll. Zum Glück habe ich ihm nie eins geliehen. Warum? Weil ich es nicht mag, wenn jemand in meine Bücher kritzelt. Und dann macht er noch etwas viel Verrückteres als Bücherränder vollschreiben. Es mag unglaublich klingen, aber er duschte mit einem Buch. Ehrenwort. Er las unter der Dusche. Woher ich das weiss? Ganz einfach. Alle seine Bücher waren von Feuchtigkeit aufgequollen. Am Anfang dachte ich, das komme vom Regen, Ulises war ein eingefleischter Fussgänger, nahm nur selten die Metro, ging kreuz und quer durch ganz Paris, und wenn es regnete, war er völlig durchnässt, denn er blieb nie stehen und wartete, bis der Regen aufhörte. Deshalb waren seine Bücher, jedenfalls die, die er meistens las, zerknittert und wie aus Pappe, und ich dachte, der Regen sei daran schuld. Aber eines Tages sah ich, wie er mit einem trockenen Buch ins Badezimmer ging und danach mit einem, das ganz feucht war, wieder herauskam. An jenem Tag siegte meine Neugier über meine Zurückhaltung. Ich ging und nahm ihm das Buch weg. Nicht nur der Umschlag war feucht, auch einige Seiten und sogar die Bemerkungen am Rand, mit vom Wasser aufgelöster Tinte geschrieben, einige womöglich sogar unter fliessendem Wasser, und ich sagte, mein Gott, ich kann’s einfach nicht glauben, liest du etwa unter der Dusche? Bist du völlig durchgedreht? Er sagte, er könne nicht anders, und ausserdem lese er nur Gedichte, eine Einschränkung, deren tiefere Gründe ich in jenem Moment nicht verstand, heute weiss ich, was er meinte, er wollte sagen, dass er nur drei oder vier Seiten lese und kein ganzes Buch, damals aber musste ich wahnsinnig lachen, ich liess mich aufs Sofa fallen und krümmte mich vor Lachen, und da fing auch er an zu lachen, und zusammen lachten wir und lachten, ich weiss gar nicht mehr, wann wir aufhörten.»
(Quelle: Roberto Bolaño: Die wilden Detektive, 1998 (dt. 2002); Ulises Lima war ein Vertreter der mexikanischen Avantgarde-Gruppe der Vis-ze-Realisten)
An dieser Stelle präsentieren wir wöchentlich eine bibliophile Notiz. Kalenderwoche 48: Lesen unter der Dusche 1
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