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Denkübung Sprache und Moral
Mundart ist unsere Gefühlssprache, die deutsche Hochsprache unsere Schrift- und Denksprache. Dieses Klischee hält sich hartnäckig, auch und gerade in gebildeten Kreisen.
Daraus abgeleitet wird dann, die Mundart habe durchaus ihre Berechtigung in bestimmten Lebensbereichen, während sie umgekehrt für bestimmte Funktionen nicht geeignet sei. Beispielsweise könne man keine philosophischen Gespräche in Mundart führen. Und auch für wissenschaftliche Arbeiten eigne sich die Mundart nicht.
Albert Einstein hat seine fünf zentralen Arbeiten von 1905 in Deutsch verfasst. Und zwar in einem Deutsch, das ihn als wunderbaren Stilisten und Kenner der deutschen Literatur zeigt. Hätte er die Arbeiten heute verfasst, wären sie in Englisch geschrieben. Eignet sich die deutsche Sprache für wissenschaftliche Arbeiten auch nicht mehr?
Als Künstler bin ich überzeugt, dass sich Darstellung von Erkenntnis nicht trennen lässt, also dass beispielsweise Gedanken davon beeinflusst sind, in welcher Sprache sie gedacht wurden. Die meisten Naturwissenschafter weisen diese Vorstellung zurück. Und ich wünsche mir endlich einmal eine gross angelegte Studie, die aufzeigt, inwiefern sich naturwissenschaftliche Erkenntnis dadurch verändert hat, dass sie nur noch in Englisch hergestellt wird.
Diese Studie gibt es meines Wissens noch nicht. Aber es gibt eine andere Studie, die kürzlich in einigen Medien für Aufsehen gesorgt hat. Und zwar hat der Psychologe Albert Costa von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona 725 Personen aus unterschiedlichen Ländern vor ein schwerwiegendes theoretisches Problem gestellt: Wären sie bereit das Leben eines dicken Mannes zu opfern, wenn sie damit das Leben von mehreren anderen Menschen retten könnten?
Für Aufsehen gesorgt hat die Studie, weil Menschen, denen die Frage in einer Fremdsprache gestellt wurde, eher bereit waren, den large man zu opfern, als wenn ihnen die Frage in Muttersprache gestellt wurde und es sich beispielsweise um einen hombre grande handelte.
Eigentlich überraschen mich die Ergebnisse nicht. Bei jedem Flugzeugabsturz wird mir gemeldet, wie viele Landsleute an Bord waren. Und je mehr es waren, umso grösser ist meine Betroffenheit.
Bemerkenswert ist allerdings das Fazit der Autoren der Studie, die aus der Sache schliessen, fundamentale Entscheidungen sollten wir unabhängig von unserer sprachlichen Herkunft fällen. Ist, weitergedacht, die Herstellung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Englisch also gar kein Verlust, sondern vielmehr ein Gewinn an Objektivierung? Und sollten englischsprachige Forschende besser in Spanisch und Chinesisch forschen, um einen ähnlichen Grad der Objektivierung zu erreichen?
Ich gebe zu, dass mich das Fazit der Autoren nicht überzeugt, weil ich in keiner Sprache der Welt bereit wäre, den dicken Mann im Rahmen dieser Denkübung zu opfern. Vielmehr frage ich mich, was für eine Weltanschauung hinter dem angeblichen Problem steht. Sollte das Dilemma tatsächlich bestehen, dass ein Mensch durch seinen Tod andere retten könnte, wäre der Wille des dicken Mannes nicht unentscheidend. Die Zeit so sehr einzuschränken, dass der Proband quasi legitimiert wird, seinen Willen den anderen gottähnlich überzustülpen, zeugt von einer geistigen Verantwortungslosigkeit, mit der viele angeblich rationale Entscheide gefällt werden.
Nein, ich bin nicht dafür die Mundart zur Schriftsprache zu machen und zu standardisieren. Wozu auch? Ich habe genügend Schriftsprachen zur Verfügung.
Dennoch bin ich der Überzeugung, dass in jeder Sprache grundsätzlich alles möglich ist und dass Vielsprachigkeit zur Erweiterung unseres Denkens, Fühlens, Erfindens und Erkennens führt. Mein Fazit aus der Studie wäre: Entscheidet mehr in Muttersprache, dann seid ihr weniger menschenverachtend.
Ein Blog-Beitrag von «Bern ist überall» im Journal B. Zuletzt: Notre actualité von Antoine Jaccoud.
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