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Beat Mazenauer

Bergler, Clown und Homme de Lettres

Wer Giovanni Orelli einmal bei einer Lesung erlebt hat, muss sich wundern, dass dieser Dichter aus dem engen Bedrettotal nicht längst auch bei uns ein Begriff ist. Aber was heisst schon Lesung? Im eigentlichen Sinn war Giovanni Orelli ein schlechter Vorleser. Vor lauter Einfällen konnte er sich oft kaum auf den eigenen Text konzentrieren, ohne nach ein zwei Sätzen gleich wieder abzuschweifen, Dante heranzuzitieren oder Querverweise anzubringen. Giovanni Orelli, der seiner Statur nach einem Bergbauer aus seiner Heimat im Bedrettotal glich, war ein sprühender Fabulierer und blitzgescheiter Denker, ein wunderbarer Sprachvirtuose und verschmitzter Conférencier in einer einzigen Person.

Einen «lyrischen Schalk» hat ihn der Romanist Cla Riatsch einmal genannt. Sein Lachen drang weit über das enge Bedrettotal hinaus, wo er 1928 geboren wurde und aufwuchs. Er zog später nach Lugano, wo er als Mittelschullehrer wirkte und als Autor arbeitete. Seinem Tal jedoch blieb Orelli stets verbunden. Ihm widmete er 1965 seinen ersten Roman, der gleich auch sein erster literarischer Erfolg wurde: «L’anno della valanga» (Der lange Winter). Das Buch erzählt vom harten Lawinenwinter 1951, der den Junglehrer Orelli während Wochen im heimischen Dorf einschloss. Über den Köpfen der kleinen Gemeinschaft drohten turmhohe Schneewechten, die nachts irgendwo mit Getöse zu Tal donnerten. Unvorhersehbar wen oder was sie unter sich begraben würden.

Unter der Gefahr rückt die Dorfgemeinschaft zusammen, zugleich verschiebt sich unmerklich ihr Gleichgewicht. Während die Alten auf den Herrn vertrauen, nutzen die Jungen die Nähe für eigene, erotische Spiele: das Leben gegen den Tod. In ihrem Übermut steckt auch die stille Auflehnung gegen das hilflose Machtwort der Patriarchen. Die Evakuierung des Tales vollendet schliesslich ihr Schicksal. Die Dorfgemeinschaft verstreut sich und wird nicht mehr zusammen finden. Der Erzähler bleibt selbst in Lugano und lernt die Sinnlichkeit der Stadt lieben. Der Berg ist bloss noch Reminiszenz an Kindheitstage.

Die poetische Schlichtheit des ersten Romans entwickelte Giovanni Orelli weiter zu einer verschachtelten, vielstimmigen Erzählweise, in der die Komplexität der Wirklichkeit widerspiegelt und verfremdet wird. Mit boshaftem Witz nimmt er im Roman «Monopoly» (1980) die Bankenschweiz aufs Korn, indem er sie als Spielplatz für Finanztransaktionen persifliert. Doch seine Satire behält im Kern stets etwas Bejahendes, Befreites. Weitere Romane sind «Walaceks Traum» (1991) oder «Die Brille des Gionata Lerolieff» (2000), einer irrwitzigen Reise quer durch die Schweiz, die dem Helden, der beim Umsteigen die Brille verloren hat, den Blick nach innen öffnet. 

Der Schalk steckt auch in seinen Gedichten. Mit Vorliebe griff Orelli auf traditionelle Formen wie das Sonett zurück, um das rigide Korsett zu durchbrechen und mit frischem Inhalt zu füllen. Er scheute sich nicht, mit Dante-Versen eine unheilige Geilheit zu lindern oder den Kindern als Erbe «Massengedränge, Kacke, Verderben» zu versprechen. Der profane Alltag vermählt sich mit der hohen Kultur. Manche Gedichte bergen, Tagebucheinträgen ähnlich, die Erinnerung an persönliche Episoden und Lektüren oder an bittere politische Ereignisse. Um durch den Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit selbst nicht in Sarkasmus oder Pathos zu verfallen, rettet der Dichter sich in anspielungsreiche Ironie. Geprägt von wunderbarem rhythmischem Gespür und von schmeichelnden Assonanzen kreiert Orelli lyrische Bilder, manche paradiesisch hell und gelassen, manche infernalisch finster und bitter, in denen sich ein grosses Herz spiegelt. Immer wieder blitzen darin auch Reminiszenzen an die Mutter, ans enge Tal der Kindheit auf.

Mit Giovanni Orelli verliert die Tessiner wie die Schweizer Literatur einen unnachahmlichen Kosmopoliten aus den Bergen, einen schalkhaften Homme de lettres und vor allem einen kritischen Zeitgenossen, der seine Zeit und sein Land mit Witz und Ironie beschrieb.

 

 

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