Für dieser Erzählbewegung hat Erica Pedretti der betagten Sophie ihre unnachahmliche literarische Stimme verliehen, die kreisend und stockend die Bruchstücke ihres Lebens zusammenzufügen, ohne noch zu einem einheitlichen Bild zu verfugen. Dokument und Fiktion, Poesie und Reflexion mischen sich darin. Das Erinnern ist Sophies (zu) später Widerstand, der mit dem Nachlassen des Gedächtnisses allmählich verglimmt.
„Kuckuckskind“ aus dem Jahr 1996 ist Erica Pedrettis letztes Buch. Es ist, wie mehrere ihrer Bücher, peinlicherweise vergriffen. Für ihr beeindruckendes Lebenswerk ist sie 2013 mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet worden. In seiner Laudatio schrieb Daniel Rothenbühler, auch mit Blick auf dieses letzte Buch: „Gerade weil ihr Geschichtspessimismus davon ausgeht,dass sich scheinbar Vergangenes laufend wiederholt, hat sie darauf hingeschrieben, das zu zeigen, was einzigartig ist und woran sich jede Kunst zu bewähren hat. Und dazu hat sie auch die Sprache, in der dies geschehen soll, in Frage gestellt, sie als Fremdsprache behandelt und das Fremdsein auch sprachlich als Kunst bewahrt. Damit spricht Erica Pedrettis Werk den Wirklichkeits- und den Möglichkeitssinn von Menschen jeglicher Herkunft an und bildet ein Stück Weltliteratur.“
Am 14. Juli 2022 ist Erica Pedretti im Alter von 92 Jahren verstorben.
(Beat Mazenauer)
Suhrkamp, Frankfurt 1996
ISBN: 3-518-40998-0